Mein Sinn des Lebens

"There are only three things in life: To read poetry, to write poetry but, best of all, to live poetry." Jill Dawson

Montag, 3. Mai 2010

Ernte

Meinen ersten Roman bezeichne ich als mein Baby - nicht nur, weil er mir ganz besonders am Herzen liegt, sondern vor allem, weil ich beinahe auf den Tag genau neun Monate lang daran geschrieben habe.
Meine Kurzgeschichten sehe ich dagegen eher als die Früchte meiner Arbeit, die ich ernte. Ich verbringe zu wenig Zeit mit ihnen, als dass ich sie wirklich lieben könnte. Bevor ich mich richtig mit ihnen und ihren Protagonisten auseinandergesetzt habe, ist die Geschichte meist schon wieder fertig; um ein Baby kann es sich also kaum handeln. Natürlich gibt es aber auch bei diesen Früchten mehrere Kategorien - unreife, gerade knapp verdauliche und die reifen, die manchmal so süss sind, dass meinen Lesern bei ihrem Genuss die Tränen in die Augen schiessen.
Doch wie jeder Plantagenbesitzer bin ich selbst mit den vielen Früchten überfordert; ich kann sie nicht für mich behalten: Wenn man sich jahrelang von Bananen ernährt, empfindet man ihren schweren, klebrigen Geschmack als widerlich und erst, wenn man die Meinung eines Unerfahrenen, der noch nie Bananen zu sich genommen hat, hört, versteht man wieder, was man früher einmal an der Frucht gefunden hat.
Mir geht es mit meinen Geschichten nicht anders: Lese ich sie mir zum hundertsten Mal selbst vor, so sehe ich manchmal bei bestem Willen nicht mehr ein, wie ich jemals so etwas schreiben konnte. Erst der unvoreingenommene Blick eines neuen Lesers erlaubt es mir dann, die Geschichte wieder mit den Augen eines Novizen und nicht mit denen eines Abtes in der Glaubenskrise zu sehen.
Wie der Plantagenbesitzer lege ich nun auf diesem virtuellen Markt, der das Internet ist, meine Früchte dar - oder zumindest eine Kostprobe davon, die ich mit einem kleinen, scharfen Messer aus dem saftigen Fruchtfleisch schneide.


Lautlos wirbelten die Schneeflocken an den Fenstern des fahrenden Zuges vorbei; überschlugen sich an den kalten Scheiben und stürzten dann wieder hinaus in die einbrechende Dunkelheit. Vereinzelte, kristallene Sternchen blieben an dem beschlagenen Glas hängen und schimmerten dort wie gefrorene Tränen.
Ich fröstelte, schlang meinen dicken Wollschal noch enger um meinen Hals und atmete seinen vertrauten Duft tief ein. Er roch nach zu Hause – sosehr, dass ich beinahe schon glaubte, bereits dort angekommen zu sein.
Apfelkuchen, dachte ich. Mum würde einen Apfelkuchen vorbereitet haben, genau wie jedes Jahr. Ich konnte beinahe schon schmecken, wie der süsssaure Geschmack meinem Gaumen schmeichelte; wie ich auf die weichgebackenen Rosinen biss und mir aus lauter Gier die Zunge verbrannte.
Mit einem metallenen Kreischen kam der Zug in einem kleinen Ort zum Stehen. Die dicke, alte Frau, die sich so verbissen an ihrem geflochtenen Weidenkörbchen festgeklammert hatte, stemmte sich mit einem leisen Ächzen auf die Füsse und liess mich einer leeren Sitzbank gegenüber. Mit einem betont genervten Schnauben stellte ich die Lautstärke meines mp3-Players auf ihr Maximum, als drei Gören in rosa Steppjacken an mir vorbeitrampelten, eine schlammige Spur auf dem ohnehin schon ziemlich schmutzigen Zugboden hinterliessen und einen geradezu schmerzhaft gemütlichen Weihnachtsmarktduft mit sich brachten. Glühwein, gebrannte Mandeln, Magenbrot und Zuckerwatte füllten alle auf einmal meine Gedanken und erinnerten mich mit unnötiger Heftigkeit meinen knurrenden Magen. Erschöpft liess ich meinen Kopf gegen die Rücklehne des Sitzes krachen und schloss die Augen.
Ich konnte all diese überglücklichen, unbekümmerten Gesichter nicht mehr sehen.
„Ist hier noch frei?“

(Anfang meiner neuesten Kurzgeschichte
Schicksalszug
)

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