Mein Sinn des Lebens

"There are only three things in life: To read poetry, to write poetry but, best of all, to live poetry." Jill Dawson

Dienstag, 18. Mai 2010

Ende

Das Ende liegt bereits im Anfang, schreibt der französische Autor Samuel Beckett in seinem Theaterstück
Endspiel
, und damit liegt er vollkommen richtig. Kaum habe ich den ersten Satz, ja schon nur das erste Wort oder gar den ersten Buchstaben einer Geschichte getippt, weiss ich, dass ich irgendwann ihren letzten Satz, das letzte Wort, den letzten Buchstaben schreiben werde. Die Nostalgie liegt bereits in der Vorfreude; ich bin mir schon am Anfang bewusst, dass ich mich bald von meinen Figuren verabschieden muss, dass ihr Abenteuer ein Ende nehmen wird, so wie auch unser Leben eines Tages ein Ende nimmt.
Denn ist unser Leben nicht selbst ein Buch, das wir mit der Zeit selbst schreiben? Ist nicht jeder Tag ein leeres Blatt? Spiegelt nicht jedes Buch auf seine Art das Leben wieder, und sei es nur durch die Tatsache, dass es über einen Beginn und ein Ende verfügt?
Der Schluss einer Geschichte ist für mich jeweils ein trauriges Ereignis, einem kleinen Tod gleich. Jedes Mal werde ich von Melancholie und Bedauern überwältigt. Hätte ich doch die Handlung noch ein paar Zeilen länger dauern lassen. Hätte ich mich doch den Charakteren, die mir ans Her gewachsen sind, noch weitere fünf Seiten lang gewidmet. Hätte ich doch die Möglichkeit, noch etwas länger in diesem magischen Universum zwischen Wirklichkeit und Illusion zu verweilen.
Doch Geschichten zeigen immer nur Ausschnitte aus einem Ganzen; jede ist in sich ein winziges Fenster zu einem riesigen Hof. Und selbst dieses Fenster muss irgendwann geschlossen werden.

So komme ich nun auch in
Schicksalszug
zum unvermeidlichen Ende. Aufgrund der eingefrorenen Weichen auf der Strecke ist der Zug inzwischen stehen geblieben; die Protagonistin, die sich bis eben noch mit ihrem Mitreisenden gestritten hat, gerrät in Panik und vergisst darüber ihren Ärger.

„Die haben alles unter Kontrolle“, meinte da mein Mitreisender und zum ersten Mal fehlte der spöttische Unterton in seiner heiseren Stimme gänzlich. Das stimmte mich irgendwie neugierig und ich beschloss, dass ich die letzten Stunden meines Lebens vielleicht nicht unbedingt damit vergeuden sollte, einen merkwürdigen Kerl zu hassen. Mit dem letzten bisschen schwachen Widerwillens, das mir noch blieb, wandte ich mich ihm zu und musterte ihn hoffnungslos.
„Im Ernst!“, sagte er nun mit Nachdruck und sah mich aus seinen schwarzen Mandelaugen geradezu liebevoll an. Seine Pupillen, die ohnehin nur schwer zu erkennen waren, schienen sich dabei zu erweitern und die Iris komplett zu verschlucken. „Wenn sie die Weichen nicht hinkriegen, rufen sie die Polizei oder wir werden mit Bussen zum nächsten Bahnhof gebracht. Im Notfall könnten wir sogar zu Fuss gehen.“
„Ich stapfe mit Sicherheit nicht im kniehohen Schnee durch einen stockfinsteren Wald“, erwiderte ich so barsch wie möglich. „Wer weiss, was und wer sich dort draussen im Gehölz versteckt.“
„Ich würde dich beschützen.“
Die bissigen Worte blieben mir im Halse stecken. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und betrachtete schlussendlich einfach nur stumm den abgewetzten, heidelbeerfarbenen Lack auf meinen Nägeln. Seinen intensiven Blick spürte ich noch immer auf mir ruhen.
„Das meine ich ernst“, meinte er bestimmt, als glaubte er, ich hielte sein Versprechen für einen Witz.
„Danke“, murmelte ich verlegen, ohne dabei aufzusehen. Wann hatte unser Pseudodialog plötzlich diese Richtung eingeschlagen?
In diesem Augenblick ging ein heftiger Ruck durch den Zug. Wir wurden arg durchgeschüttelt; irgendwo kreischte eine Frau oder ein kleines Kind, ein Triebwerk begann zu dröhnen und das Licht flackerte unruhig. Entsetzt schloss ich die Augen und wartete mit klopfendem Herzen auf das Ende; auf den Knall, die Explosion, den Tod. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen legte sich eine warme, grosse Hand auf meine kleine, verkrampfte und drückte sie sanft. Die nasale, heisere Stimme, die mich schon die ganze Fahrt über begleitet hatte, erklang auf einmal dicht neben meinem Ohr: „Hey. Es ist alles in Ordnung. Wir fahren wieder.“
Ungläubig schlug ich die Augen auf und blickte durch die von einer feinen Eisschicht überzogene Scheibe nach draussen. Für einen kurzen, bittersüssen Moment schien mein Herz auszusetzen, als ich die düsteren, schwarzen Tannenwipfel und die zu blauweissen Schlieren verwischten Schneefelder immer schneller an uns vorbeiziehen sah.
Ich wusste nicht, wie lange ich in die Dunkelheit hinausgestarrt hatte, als ich endlich begriff, dass der Fremde noch immer meine Hand hielt. Unsere Blicke kreuzten sich, als ich ihn verwundert ansah. Beschämt räusperte er sich, liess mich los und setzte sich wieder gerade hin.

... Bis die Protagonistin schliesslich aussteigt, wechseln die beiden kein Wort mehr miteinander; verlegen schweigen sie voreinander hin. Erst, als sie draussen auf dem Bahnsteig steht und der Zug wieder abfährt, versteht sie, dass sie möglicherweise die Chance ihres Lebens verpasst hat. Doch es ist zu spät.

Quietschend kam der Zug ins Rollen; das Stampfen der Getriebe dröhnte in meinen Ohren, als ich mich enttäuscht abwandte, meine Tasche schulterte und mich der Menschenmenge, die auf die Unterführung zusteuerte, anschloss. In weniger als einer Viertelstunde würde ich bereits zu Hause am Küchentisch sitzen. Mum würde ihren Apfelkuchen in den Ofen schieben und mir eine dampfende, heisse Schokolade mit einem Tupfen Schlagsahne reichen. Ich würde meine klammen Finger an die Tasse legen und voller Missmut zusehen, wie die Sahne langsam zu weissen Schlieren schmelzen und sich mit dem hellen Braun vermischen würde; ähnlich dem schmutzigen Schnee, auf dem ich immer wieder auszugleiten drohte. Alle, die ich liebte, würden da sein. Niemand würde fehlen. Niemand Wirkliches, auf jeden Fall. Erneut spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen schossen, doch diesmal nicht aus Angst, sondern aus Unglück. Blind und taub bahnte ich mir meinen Weg zwischen all den Leuten hindurch; unbesorgt, ob ich sie dabei anrempelte oder ihnen meine Tasche in den Magen rammte.
„Hey!“, brüllte jemand hinter mir her, doch ich kümmerte mich nicht darum. Ich wollte nur noch nach Hause.
„Hey!“
Die Person schien näher zu kommen, mich zu verfolgen. Ich beschleunigte meinen Schritt. Keiner sollte mich nun mehr zurückhalten.
„Hey!“
Jemand packte mich am Arm und drehte mich grob zu sich um. Ich wollte bereits schreien; wollte meinen ganzen Welt- und Selbsthass an dieser unverschämten Person auslassen – doch mir stockte der Atem.
Das war nicht möglich. Ich musste träumen.
Er konnte nicht wirklich vor mir stehen.
Fassungslos starrte ich ihn an. Sein heiseres Lachen drang bloss wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Schneeflocken hatten sich in seinen schwarzen Locken verfangen und glitzerten dort wie winzige Kristallsplitter; sein Mantel stand offen und sein blaugestreifter Schal flatterte leicht im beissend kalten Wind.
„Wie...?“ Meine Stimme versagte. Ich konnte nicht weitersprechen.
„Die Notbremse“, entgegnete er bloss grinsend.
Noch immer konnte ich nicht glauben, dass er wirklich war.
Erst, als er sich vorbeugte und seine kalten, rissigen Lippen sanft die meinen berührten, spürte ich, wie die dicke Eisschicht, die mein Herz nun schon so lange umschlossen hielt, allmählich zu schmelzen begann.

... Und hier ist es nun, das Ende. Der Zug des Schicksals hat seinen Endbahnhof erreicht. Auf dem Hof wird es Nacht; das Fenster wird geschlossen.

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